Das Märchen von den zwei Eicheln

Es war einmal eine große, mächtige Eiche, die stand an einem schönen Hang und genoß ihr Eichenleben. Jedes Jahr zur rechten Zeit wuchsen viele junge Eicheln heran und wollten auch so schöne, große Bäume werden wie ihre Mutter. In einem Jahr waren unter den Eicheln zwei Brüder, Jakob und Hans. Die wuchsen nebeneinander und erzählten viel miteinander, während sie älter wurden. Schließlich kam der Tag, an dem sich beide von der Mutter verabschiedeten und zu Boden fielen.

Da die Eiche an einem Hang stand, fingen Hans und Jakob sogleich an, den Hang hinabzurollen. Sie freuten sich und lachten, und alle Pflanzen, an denen sie vorüberkamen, freuten sich ebenfalls und wünschten ihnen viel Glück auf ihrer wilden Reise.

Schließlich kamen sie in ein schönes Tal. Ein Fluß floß ruhig an ihnen vorbei, die Sonne schien und alle waren freundlich und nett zu den beiden Reisenden. Da beschlossen die beiden, hier zu bleiben und sich niederzulassen, um wie ihre Mutter große und stattliche Eichen zu werden. Da es bereits Herbst war und sie von der langen Reise erschöpft waren, schliefen die beiden Brüder ein.

Sie träumten, daß der liebliche, ruhige Fluß, mit dem sie sich im Sommer angefreundet hatten, böse und zornig wurde, wenn es kalt war. Und daß er wütend schäumte, wenn der Schnee schmolz und ihn anschwellen ließ. Der Fluß spie dann dicken schweren Schlamm in das Tal, der alles junge Leben zu ersticken drohte. Nur die besonders starken Pflanzen konnten sich aus dem Schlamm befreien und weiterwachsen. Die Schwachen lebten noch eine Weile unter dem Schlamm weiter, wurden irgendwann müde und träge, um endlich still zu sterben.

Als Hans und Jakob im Frühling aufwachten, war es dunkel um sie herum. Aber es war auch warm und gemütlich, und so beschlossen sie, noch ein wenig länger zu schlafen. Nach einer Weile, es waren wohl einige Jahre vergangen und der Schlamm wurde immer höher, wurde der Hans es leid, immer nur so dazuliegen. Er wollte wieder hinaus in das Licht, an das er sich von früher her noch erinnerte. Und er wollte noch viele Abenteuer erleben wie das ihrer großen Reise. Aber als er dem Jakob davon erzählte, sich aufzumachen und das Licht zu suchen, wollte der davon nichts wissen. "Hier ist es so schön warm und gemütlich." sagte er. "Niemand stört uns, wir können uns miteinander unterhalten und müssen uns nicht immerfort anstrengen. Ich bleibe hier."

Traurig beschloß Hans, das große Abenteuer allein zu wagen. Ohne seinen Bruder Jakob, den er sehr lieb hatte. Aber hinauf zum Licht und eine große, starke Eiche werden, das wollte er noch viel lieber als weiter bei Jakob in der Dunkelheit liegen. Und so nahmen sie Abschied voneinander und der Hans streckte zaghaft seinen Keim aus, um zum Licht zu kommen und zu wachsen.

Oh, das tat weh! Das war so ganz anders als die warme, dunkle Geborgenheit des Schlafens und Nichtstuns. Hans kämpfte sich mühsam durch den Schlamm. Höher und höher, Stück für Stück. "Nur noch dieses kleine Stückchen, eine letzte große Anstrengung noch, dann ist es geschafft." sagte er sich immer wieder, wenn es gar zu schwer wurde.

Und schließlich war es geschafft! Hans blinzelte, als er die Erde durchstieß und plötzlich mitten im Licht eines schönen, milden Sommertages stand. Er hatte es geschafft! Er hatte endlich die Dunkelheit verlassen und konnte nun wachsen! Eine so große, schöne Eiche werden wie seine Mutter es gewesen war! "Wie schön das ist, seine Äste in den Wind zu recken und den Geschichten der Vögel aus den fernen Ländern zu lauschen." dachte er. "Wenn ich doch nur dem Jakob davon erzählen könnte."

Hans wurde mit jedem Jahr größer und schöner. Er bekam kräftige Wurzeln, mit denen er sich festhielt, wenn der Sturm im Herbst heulte und seine bunten Blätter davonwehte. Und mit der Zeit freundete er sich auch wieder mit dem Fluß an. Der schäumte zwar immer noch vor Wut im Frühling, aber das machte dem Hans nichts mehr aus. Er war jetzt stark genug, das zu ertragen. Und er freute sich sogar über den Schlamm, den der Fluß mitbrachte, denn der war nahrhaft und wurde bald ein richtiger Leckerbissen für ihn.

Manchmal, wenn er den Kindern zusah, wie sie Drachen steigen ließen oder unter seiner mächtigen Krone spielten, dann dachte er an seinen Bruder Jakob, der wohl immer noch unten in der Erde lag und schlief und all das Schöne nicht sehen konnte.

 

Startseite | Gedichte