Begegnung mit dem Schatten

 

Was meine ich mit Schatten? Ich möchte damit alle die Aspekte des Seins bezeichnen, die nicht den Anforderungen genügen, die von anderen an uns gestellt werden oder die wir selbst an uns stellen.

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Im Lauf unseres Lebens lernen wir, bestimmte Aspekte unseres Seins abzuspalten und zu unterdrücken. Dieser Prozeß des Abspaltens läuft ständig ab, und irgendwann sind wir uns nicht mehr bewußt, die abgespaltenen Aspekte schon einmal besessen zu haben. Trotzdem sind diese Seiten weiterhin Bestandteil unseres Seins. Es ist nicht so, daß wir sie nicht mehr haben -  wir haben nur gelernt, sie unter Verschluss zu halten und durch angelernte und den Erwartungen unseres Umfeldes entsprechende Reaktionen zu ersetzen. Dieser Prozeß des Unterdrückens und Ersetzens ist uns so vertraut geworden, daß er uns überhaupt nicht mehr auffällt. Und wenn wir an die verdrängten Seiten unseres Seins erinnert werden, reagieren wir oft mit Entsetzen oder Angst.

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Meine erste Begegnung mit dem Schatten hatte ich vor etwa sechs Jahren in einem Traum. Damals war mir nicht bewußt, was da passierte - ich wertete den Traum lediglich als einen schlimmen Albtraum.

Ich befand mich in meinem Auto, das in der Morgendämmerung an einem verlassenen Bahnhof stand. Plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Ich hatte ein Gefühl, als würde mich ein bohrender Blick von hinten treffen. Gleichzeitig wurde mein Hals steif vor Angst und ich konnte mich nicht mehr umschauen. Im Spiegel sah ich, wie sich auf dem Rücksitz ein bärtiger, wild aussehender Kerl aufrichtete. Seine Ausstrahlung ähnelte eher der eines wilden Tieres als der eines Mannes. Plötzlich saß er neben mir auf dem Beifahrersitz und legte seine Hand auf mein Bein. Im Augenblick der Berührung befiel mich ein so lähmendes Entsetzen, wie ich es bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ich schrie auf und erwachte schweißgebadet. Doch auch nach dem Erwachen fühlte ich mich nicht sicher. Die Angst und das Entsetzen begleiteten mich noch einige Tage lang.

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Meine zweite Begegnung mit dem Schatten fand vor einigen Tagen statt, ebenfalls in der Nacht, gegen vier Uhr.

Ich hatte seit zwei Tagen Kopfschmerzen und hatte einen sehr leichten Schlaf. In manchen Phasen war es weniger Schlaf als vielmehr ein Zustand des Halbschlafes, der mit einer außerordentlich großen Klarheit der Gedanken verbunden war. Manchmal gibt es kurz vor dem Einschlafen ähnliche Phasen großer Klarheit.

In diesem Halbschlaf  wurde mir ein Verhaltensmuster bewußt, das in Bezug auf meine Lebensgefährtin immer wieder aufgetreten war. Plötzlich sah ich das Muster ganz klar, und ich war auch in der Lage, die Ursache zu erkennen. Dann mischte sich ein Bild von einem hohen, alten Turm in meine Gedanken. In diesem Turm gab es ganz oben eine kleine Kammer, aus der ein Licht fiel. Gleichzeitig sah ich im Fuß des Turmes ein Verließ, in dem eine wilde Gestalt saß. Ich wusste sofort, wer das war, aber mich erfüllte kein Entsetzen mehr. Er war nicht entsetzlich, sondern einfach nur da - er schien mich einzuladen. Er drängte sich nicht auf, sondern war einfach nur präsent - er wollte nichts von mir, sondern gab sich mir zu erkennen und wartete. Mir wurde plötzlich klar, daß der Schatten nicht nur Wut, Hass, Zorn und all die anderen Eigenschaften verkörpert, die ich mir verbiete, sondern daß er ebenso Liebe, Geben, Güte darstellt. Er ist völlig wertfrei, die Wertungen kommen immer nur von mir. Ich empfand eine Mischung aus Erstaunen, Erleichterung und Trauer darüber, das ich das erst jetzt sehen konnte. Gleichzeitig änderte sich die Perspektive und der Turm rückte in die Ferne. Nun fasste etwas in mir den Entschluss, sich auf den Weg zu machen und ich wusste, was ich in der Zukunft zu tun habe: in den Turm zu gehen und den Schatten aus seinem Verließ zu holen. Dieser Entschluss, in den Turm zu gehen, war wie ein Ergeben, wie ein Zurückkehren in ein lange vermisstes Heim. Er fühlte sich richtig und gut an. 

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Der Schatten ist immer da, er wütet und heult und schreit in dem Gefängnis, in das wir ihn gesperrt haben. Manchmal ist er ganz ruhig, manchmal voller verzweifelter Wut und Raserei, wie ein gefesseltes, wildes Tier. Wir haben große Angst davor, ihn aus seinem Gefängnis zu befreien. Aber was kann uns denn wirklich passieren? Der Schatten besteht nicht aus Wut, Zorn und Hass. Das sind die Eigenschaften, die wir ihm zuschreiben. Das sind Wertungen, und diese Wertungen vergeben wir aus Angst. Wir brauchen eine Rechtfertigung dafür, den Schatten einzusperren und uns vor diesen Seiten unseres Seins zu verschließen. Doch genauso, wie ein Tier nicht von Natur aus böse ist, ist auch der Schatten nicht böse. Er besteht aus reiner Kraft, aus Lebensenergie, die jenseits jeder Wertung liegt. Wenn wir den Schatten weiterhin in seinem Gefängnis lassen, berauben wir uns selbst eines großen Teils unserer Kraft.

Oft finden wir den Weg zu unserem Schatten deshalb nicht, weil wir Angst vor unserer eigenen Kraft haben. Wir haben Angst davor, unser eigenes Leben zu führen, jenseits der Wertungen unseres Umfeldes. Wir haben Angst, die Verantwortung für unsere eigenen Entscheidungen und unser eigenes Leben zu übernehmen. Denn das müssten wir, wenn wir über unser volles Maß an ungezügelter Kraft verfügen wollen.

 

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